Sabina Fudulakos
Der Fremde
(erschienen in erostepost Nr. 61)
Eine Geschichte über Hunger, Begierde, Angst – und das leise Verschwinden eines Geräuschs.
Im Wirtshaus habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Dort gehen wir sonst nie hin, meine Schwester und ich. Wir kochen immer selbst. Auswärts essen! Das kommt bei uns so gut wie gar nicht vor. Das an dem Tag war eine Ausnahme.
Wie ich gesagt habe, dass ich gehen will, hat die Bernadette zuerst versucht, mich davon abzuhalten. Zum Gespött der Leute würde ich mich machen, hat sie gesagt – ich allein, eine alte Jungfer unter all den Alkoholikern dort.
Das Geräusch in der Speisekammer hat uns dann aber doch aus dem Haus getrieben. Das Scharren hat der Bernadette nämlich auch Angst gemacht. In der Früh, beim Kaffeetrinken, haben wir es gehört und uns dann den ganzen Vormittag über nicht mehr reingetraut, in die Speis. Wie sie den Hunger nicht mehr ausgehalten hat, ist sie aber doch mitgekommen, die Bernadette.
Wir haben uns in die Ecke gesetzt, dort, wo das Kruzifix schräg von der Wand herunterhängt.
Wie der Fremde reingekommen ist, hat mich sein Anblick sofort in den Bann gezogen. Groß ist er gewesen. Hat sich gleich an den Tisch neben dem unseren gezwängt, unter dem Eberkopf, das Gesicht direkt vis-à-vis von mir. Statt auf die Karte hat er der Wirtin ungeniert in den Ausschnitt gestarrt – und dann bestellt, ohne nachzudenken.
Die Bernadette hat in ihrem Salat herumgestochert, als wäre sie beim Leichenschmaus, während er seine Knödel zerhackt, mit Rotkraut vermischt und über alles die Preiselbeeren gegossen hat. Sein Gansl hat er mit beiden Händen gepackt – ich habe gestaunt, wie kräftig sie waren – und seine Zähne in die Haut der Keule geschlagen. Als sie geplatzt ist, hat er aufgestöhnt. Mir ist ein Schauer über den Rücken gelaufen.
In ganzen Fetzen hat er das Fleisch von den Knochen gerissen und Knödel und Kraut mit dem Löffel hinterhergestopft. Zugemacht hat er seinen Mund zuerst gar nicht – nur reingestopft, ohne zu schlucken, und immer neue Bissen nachgeschoben. Mit seiner rosigen Zunge hat er umgerührt in den Brocken, wie unser Nachbar in der Mischmaschine.
Und irgendwann hat er endlich sein Krügel am Henkel gefasst und angesetzt – und alles auf einen Satz runtergespült. Den ganzen Brei, wie nichts. Dann hat er das leere Glas auf den Tisch geknallt und sich mit dem nackten Arm über den Mund gewischt.
„Wirtin!“, hat er gebrüllt.
„Geh, bring mir noch ein Bier!“
Nachdem er gerülpst hat, hat er seine Arbeit gleich wiederaufgenommen, dass das Fett nur so gespritzt ist. Gierig gestopft, gerissen und gespuckt, geschmatzt und getunkt hat er.
Ich hab vor Aufregung fast meinen Apfelsaft verschüttet, wie ich davon genippt habe. Sonst habe ich kaum etwas zu mir genommen, nur geschaut habe ich. Und wie ich so geschaut habe, habe ich mir vorgestellt, statt neben Bernadette, die wie angetrocknet dagesessen ist und teilnahmslos an ihrem Hühnerknochen genagt hat, an seinem Tisch zu sitzen – und so wie er mit ihm schamlos zu essen und zu essen und zu … essen.
„Wo schaust denn hin?“, hat sie auf einmal gesagt, die Bernadette.
„Ich?“, hab ich gesagt. „Nirgends“, hab ich gesagt. „Ins Narrenkastl hab ich g'schaut.“
Da hat sie sich auf einmal umgedreht, nach dem Fremden.
„Da kann einem ja schlecht werden“, hat sie gesagt.
Mir ist aber alles andere als schlecht gewesen: Mir war heiß. Ich bin aufgestanden und zur Toilette gegangen, direkt an ihm vorbei. Dort habe ich kaltes Wasser über meine Handgelenke fließen lassen und ein wenig davon in meinen Nacken und in mein Gesicht gespritzt.
Ob ich ihm wohl noch gefallen würde, habe ich mich gefragt – als Frau.
Draußen, auf dem Gang, ist er plötzlich vor mir gestanden.
„Sagen Sie, wieso starren Sie mich eigentlich die ganze Zeit schon so an?“, hat er mich geradeheraus gefragt.
„Wer, ich? Ich habe Sie angestarrt? Wie kommen Sie denn darauf?“, habe ich gesagt.
„Na, glauben Sie, ich merke das nicht? Die ganze Zeit über gaffen Sie mich schon an. Ich bin doch nicht blind.“
Mir ist anders geworden. Am Ende wird der noch rabiat, habe ich gedacht. Mein Kleid ist zu rot. Das reizt ihn. Ich hätte das schwarze anziehen sollen.
Er ist noch einen Schritt näher an mich herangetreten, und da ist mit einem Mal die Angst in mir wiederaufgetaucht. Das Scharren und Trippeln in unserer Speisekammer, das wir in der Früh gehört hatten, und das Einmachglas, das mit einem lauten Krachen am Steinboden zerschellt war, sind mir wieder eingefallen.
Ich hab nur noch raus gewollt, aber er hat mir den Weg verstellt. Vor mir dieses Lackl von einem Mann, links die Wand und rechts nur die Treppe, die in den Keller geführt hat. Ich habe einmal tief Luft geholt – aber das hat auch nichts genutzt.
„Das ist ein Missverständnis“, habe ich schließlich gesagt, um auch was zu sagen.
„Ich hab nur an die Ratten bei uns in der Speis gedacht, wie ich so geschaut habe.“
„An die … Ratten?“
„Ja. Bei uns zuhause. In der Speisekammer. Meine Schwester und ich – wir haben sie scharren und trippeln gehört. Dann haben wir uns nicht mehr reingetraut. Deswegen sind wir ja da.“
Er hat seinen Kopf etwas zur Seite geneigt und mich angeschaut.
„Ich hab mich gefragt, ob Sie uns nicht behilflich sein könnten – so ein g'standenes Mannsbild wie Sie.“
Er hat seine Augen zusammengekniffen. Als ob er kurzsichtig wäre, hat das ausgesehen. Oder als ob er mir nicht geglaubt hätte. Oder vielleicht auch so, als ob er nicht gewusst hätte, was ich meine.
Festlegen wollte er sich jedenfalls nicht.
„Ach so“, hat er nur gesagt. „Na ja. Vielleicht. Schauen wir mal.“
Dann hat er sich umgedreht und ist wieder reingegangen in die Gaststube.
„Die Straße runter, das letzte Haus nach dem Stadl“, hab ich noch leise gesagt.
Als er schließlich vor unserem Gartenzaun gestanden ist, ist es draußen schon finster geworden. Die Bernadette hat ihn zuerst gesehen. Den ganzen Nachmittag über hatte sie mir schon die Leviten gelesen.
„Wie blöd kann man sein, so einem zu sagen, wo man wohnt!“, hatte sie gesagt.
„Hast du dir den angeschaut? Träumst du immer noch von der großen Liebe? Jetzt geh schon raus! Schick ihn weg, bevor er reinkommt!“
Am Ende ist mir selbst nicht mehr wohl gewesen.
„Tut mir leid, dass ich so spät komme“, hat er gesagt.
So direkt vor unserer Gartentür hat er noch größer ausgeschaut als im Wirtshaus. Ich habe gespürt, wie die Augen von der Bernadette sich in meinen Rücken gebohrt haben – vom Fenster aus.
„Der lacht dich doch auch nur aus. So wie dich immer alle ausgelacht haben“, hatte sie gesagt, als ich rausgegangen bin. Wird schon recht gehabt haben, die Bernadette. Wie immer.
„Seien Sie mir nicht böse, aber vergessen wir die ganze Sache“, habe ich zu dem Fremden gesagt und ihm meine Hand hingestreckt.
Ein bisschen geärgert habe ich mich – wegen dem Schlamassel, in den ich mich da gebracht hatte.
Er hat kurz gezögert, aber am Schluss hat er eingeschlagen. Wie ein schmelzender Eiswürfel ist meine Hand in seiner Riesenpranke gelegen.
Wir haben die Sache vergessen, und er ist ohne Widerwort gegangen. Da habe ich erst gemerkt, wie ich gezittert habe. Ich bin am Gartenzaun stehen geblieben und habe ihm nachgeschaut, bis er in der Dunkelheit verschwunden ist.
Erst dann bin ich rein ins Haus – mit schlotternden Knien – zur Bernadette.
Eines wundert mich aber heute noch:
Das Scharren und Trippeln in unserer Speis –
das haben wir seit dem Tag kein einziges Mal mehr gehört.
Essn in Wean
(Dieser Text ist in wienerischem Dialekt geschrieben – ein rhythmischer Blick auf Alltag, Sprache und soziale Unterschiede in der Stadt. „Essn in Wean“ wurde mehrfach veröffentlicht (zuletzt in der Dialektzeitschrift "Morgenschtean") und erzählt davon, wie viel sich in einem Wiener Beisl zwischen einem Schnitzel, zwei Seidln und einem Glas Leitungswasser erzählen lässt.)
In Gimnasium haums gsogt mia san de Elite.
Auf zwanzg.
Kennan’S ma den Rest bitte eipockn?
De Dopfnpalatschinkn woan a Gedicht heit.
Pfau do steht da Rauch.
Geh Fräulein, wo bleimdn unsare Schnitzln?
Des frische Brot pickt sowos vo aun da Maschin.
Dea kummt jedn Tog.
Für mich ein großes Glas Wasser, bitte.
Wia ma sowos essn kau.
Dea nimmt nur Madln, am liabstn vom Laund.
Imma desöwe Scheibn.
De kennan hackln, sogt a.
Bis drei no.
Wos soi i da sogn.
Des Tschoppalwossa kennan’S wieda mitnehma.
Bringan’S ma a Seidl. Owa eiskoid.
Waun i des gwusst hät.
Nächstes Semesta.
Is des jetzt mei Tschick?
So a Beidl.
Dea schmeckt noch goa nix.
Solaung es Göd passt.
Muasst du so vü rauchn?
A Obi gspritzt auf an Hoibn.
I hob ka Klagöd.
Host du gseng mit wem de duat woa?
Haum de ka Tia daham?
Dea fint se a kane.
Spuck drauf, mit a bissl an Schlatz geht des scho owe.
Kennts ia amoi de Scheibn wechsln?
Nua net ausrutschn.
De Rechnung bitte!
Getrennt.
De oaweit am Voikstheata, in da Gadarob.
Dürfen wir jetzt endlich bestellen?
Boid is drei.
Wos is mit unsare Schnitzln?
I nimm des Ansa Menü. Wos isn do fia a Suppn dabei?
De nächste Runde geht auf mi.
Fräulein! Mia woatn scho a Stund auf de Schnitzln!
Wengan Stipendium.
Geh so a Hundskrippl.
Haum de zoid?
Muass dea Hund unbedingt mittn am Gaung lieng?
Glei! Jessas Marant Josef! So a Schmorrn owa a.
Do kaust nix mochn.
Jetzt reng Sa se net so auf. Bia mocht eh kane Fleckn. Do, neman‘S de Serviettn.
Kennan mia zoin, bitte?
Ochtzehn, fünfadreißg.
Hest wos Gscheids g’leant.
Des meiste woan hundatviazg. Des woar a Freid.